Christian Baudis ist Digital-Unternehmer, Futurist und ehemaliger Google-Deutschlandchef. Er hat mehrere europäische Start-Ups erfolgreich gegründet und über 20 Jahre in führenden CEO-Funktionen der europäischen Medien- & Internetindustrie gearbeitet. Auf dem KVD Service Congress 2022 hat er über die Potenziale der Digitalisierung gesprochen und aufgezeigt, wo andere Länder schon deutlich weiter sind als Deutschland. ServiceToday-Redakteur Michael Braun hat nachgehakt und ist mit Christian Baudis ins Detail gegangen.
Michael Braun: Die Digitalisierung schreitet voran – welche Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft sind in welchem Maße betroffen? Digitalisierung bedeutet für Handwerksunternehmen vor Ort sicher etwas anderes als für mittelständische oder große Unternehmen.
Christian Baudis: Ja, ich glaube, der Knackpunkt ist das Verständnis von Digitalisierung. Mit Sensoren und Bilderkennung verändern sich Geschäftsmodelle komplett. Bei vielen Dingen im Alltag frage ich mich, warum wir nicht schon weiter sind. Ich glaube, das hat auch viel mit Trägheit zu tun. Landwirte arbeiten in Süddeutschland zum Beispiel im Weinbau mit Sensorik. Sensoren überwachen die Rebstöcke. Der Landwirt weiß genau, welche Rebe von der Reblaus befallen ist, an welcher Rebe Wasser fehlt. Im Prinzip ist jeder Wirtschaftsbereich betroffen – diese Technologien erlauben in allen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sprunghafte Veränderungen. Das Internet und die Digitalisierung bilden dabei aber nichts anderes als das Fundament. Die größte Hürde, die wir immer wieder erleben, ist, dass die Menschen träge sind, das sie es einfach nicht „machen“.
Michael Braun: Es ist ja auch bequem, denn irgendwie funktioniert das bisherige Geschäftsmodell, und solange das läuft, sieht man keine Gründe, etwas zu ändern oder irgendwie weiterzudenken…
Christian Baudis: … und wenn’s dann nicht mehr läuft, ist es häufig zu spät, weil andere das dann schon längst machen. Das ist die Herausforderung bei diesen Technologien: Die sprunghafte Veränderung wird nicht zehn Jahre dauern, sondern sie kann in einem
halben Jahr da sein. Das haben wir ja alles schon erlebt, zur Jahrtausendwende zum Beispiel, beim Thema Digitalkamera.
Die Innovation kam aus Japan, hierzulande hat man an dem alten Geschäftsmodell festgehalten. Irgendwann sind wir aber nicht mehr zum Händler gegangen, haben den Film weggebracht und eine Woche auf die Bilder gewartet. Das heißt, dass wer zu lange träge ist, wird ganz schnell abgehängt.
Michael Braun: Das hat sich dann im Prinzip ja fortgesetzt, als auf einmal das Telefon auch fotografieren konnte und man damit immer besser fotografieren konnte.
Christian Baudis: Genau, und für mich ist das iPhone im Prinzip der Start der Digitalisierung. Davor war es ‚nur‘ das Internet. Mit dem iPhone gab’s auch Bilderkennung, und es hat sich letztendlich auch dadurch etabliert, dass es Fotos machen konnte. Wenn man das mit KI verknüpft, wird daraus ein Datensammlergerät. Es hat sich milliardenfach verkauft, die Technik samt Sensoren wurde wesentlich günstiger. Mit dem Siegeszug der Smartphones haben wir eine Datenexplosion erlebt. Die meisten Nutzer können mit den Daten nichts anfangen, aber wer sie versteht, hat einen unglaublichen Vorteil, weil sich Daten verdichten lassen, um zum Beispiel statistisch Vorhersagen zu treffen. Wann ist die Maschine kaputt? Wann wird der Verkehr ins Stocken geraten? Wann wird sich das Wetter verändern? Gerade die Wettervorhersage war in der Landwirtschaft eines der größten Probleme. Das wird durch Datenvielfalt behoben: Großrechner in Amerika können mit einer 95-prozentigen Akkuratesse das Wetter in zwölf Stunden regional vorhersagen. Das war früher nicht möglich. Heute verfüge ich über Supercomputer, Algorithmen und den Speicherplatz in der Cloud – die billigste, skalierbar beste und sicherste Form, Daten abzuspeichern. Das haben wir nur in Deutschland noch gar nicht verstanden. Da gibt es immer noch eine Generation von Führungskräften älteren Jahrgangs, die meinen, man müsse es in proprietäre Systeme bringen.
Michael Braun: Ist das dann auch wieder so ein Aspekt von Trägheit, so wie Sie es vorhin auch beschrieben haben?
Christian Baudis: Ich muss es leider so offen sagen, ja. Man fragt sich ja häufig: Warum ist das eigentlich so? Uns geht es einfach unheimlich gut in Deutschland. In Wirklichkeit haben uns Asien und Amerika komplett abgehängt.
Michael Braun: Das wird sich dann ja mutmaßlich auf weitere Bereiche auszuwirken. Sie haben vorhin schon das Thema KI angesprochen…
Christian Baudis: Die Chance ist da: Die pharmazeutische Industrie, Banken oder Versicherungen – sie alle verfügen über einen Berg von Daten. Diese wurden früher schon verarbeitet. Aber heute tun sie sich schwer, das im Internet umzusetzen, weil man sich da nicht auskennt. Es geht doch um nichts anderes als eine statistische Prognose herauszufiltern – das ist ja das Wesentliche an KI. Mit KI und Deep Learning kann ich Zustände vorhersagen, und das ist ein unglaublicher Vorteil. Diese Vorhersehbarkeit kann ich aus Daten ableiten, weil ich Sensoren nutze, auch in Endgeräten, die ich mit mir herumtrage. Daten erzeuge ich so in Echtzeit, das ist ein Riesenvorteil – wenn man es kann. Wenn nicht, wird man komplett abgehängt.
Michael Braun: Haben Sie ein Beispiel?
Christian Baudis: In Singapur gibt es eine Bank, die hat ein Anlageberatungssystem eingeführt, also ein echter Hotspot für digitale Innovation. Das System berechnet über Algorithmen die besten Anlageformen, und das ist Echtzeit. Das ersetzt noch nicht den Asset Manager, weil das Thema viel zu komplex ist. Aber es ist schon sprunghaft besser als alles andere, was es bisher gab. Wenn in der Bankenwelt jetzt also auf einmal so ein Tool auftaucht, und es die Banken hierzulande nicht bieten können, warum soll ich dann in einer globalisierten Welt nicht meine Geschäfte mit der Bank in Singapur machen? So werden alte Geschäftsmodelle komplett ausgehöhlt – und das in einer hohen Geschwindigkeit.
Michael Braun: Wie sehen Sie dann den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit?
Christian Baudis: Das Konzept der Digitalisierung kann ich auf die Nachhaltigkeit übertragen. Nehmen wir wieder das Beispiel der Weinbauern aus Deutschland, die Sensoren an Rebstöcken anbringen. Es verbraucht mit so einer Technologie nur ein Viertel des Grundwassers, weil nur punktuell bewässert wird. Und es verbraucht nur ein Sechstel der Düngung, weil punktuell gedüngt wird. Mit KI kann man Landwirtschaft wesentlich effizienter betreiben und damit natürlich einen großen Beitrag zur Reduktion von CO2-Emissionen leisten. Oder denken Sie an das Thema Verkehr: Warum bringt man nicht die Daten von Google mit Bing, Apple & Co. zusammen mit den regionalen Verkehrsdaten und versucht, in Ballungsräumen den Verkehrsfluss so zu steuern, dass es Anreizsysteme schafft? Das macht man zum Beispiel im Großraum Paris: Verkehrsströme werden in Echtzeit gemessen, aus denen dann Verkehrsflüsse generiert werden, auf denen weniger CO2 ausgestoßen wird. Ich kann die S-Bahn zu bestimmten Zeiten zu günstigeren Preisen anbieten, um Anreize zu schaffen, oder ich empfehle Menschen, im Homeoffice zu bleiben, weil der Verkehr zu dicht ist.
Michael Braun: Das hat dann aber auch viel zu tun mit einem Umdenken in Behörden und Verwaltungen.
Christian Baudis: Da sind andere Länder viel weiter: In Estland wird in dem Moment, in dem Sie Ihr Fahrzeug tanken, die Steuer berechnet und beglichen. Und in Schweden müssen Sie die Steuererklärung nur noch mit einer SMS gegenzeichnen. Behördliche Arbeit ist also in vielen Fällen hierzulande noch ineffizient, das kann man ändern, im Sinne des Bürgers.
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