Wie können Service-Organisationen und Unternehmen sicherstellen, dass neue Angebote nicht nur einen kurzfristigen Bedarf decken und insofern Mehrwert schaffen, sondern auch mittel- und langfristig dem entsprechen, was Kunden und andere Anspruchsgruppen in der Gesellschaft wertschätzen? Dr. Henning Breuer erklärt den Zusammenhang zwischen Werteorientierung und nachhaltiger Wertschöpfung, unternehmerische Innovationen und die Rolle der Wertvorstellungen der Kunden.
Michael Braun: Was unterscheidet den wertebasierten Ansatz von der gängigen Praxis?
Henning Breuer: Als ich vor über 10 Jahren anfing mich dem Thema Werte im Kontext Innovation zu widmen, gab es nicht einmal einen Eintrag zu „Werten“ im Index der entsprechenden Lehrbücher. In der Praxis war und ist es oft immer noch üblich, die Entwicklung neuer Angebote mit Markt- oder Nutzerforschung zu beginnen. Man fragt also, welche Marktsegmente vernachlässigt, welche Bedürfnisse noch nicht befriedigt sind, um Lücken im Angebot oder, ambitionierter, „Blue Oceans“ oder das „Next Big Thing“ in der jeweiligen Industrie zu finden. Letzteres war in der Tat einer meiner Arbeitsaufträge als Berater. Meine Idee war nun, diesen opportunitätsgetriebenen Ansatz durch einen wertebasierten Ansatz zu ergänzen und das Thema Wertschöpfung in den größeren Kontext menschlicher Wertvorstellungen einzubetten. Das fand auch mein Kollege, Prof. Dr. Florian Lüdeke-Freund spannend, der sich an der Berliner ESCP Business School mit Corporate Sustainability beschäftigt und damals schon viel zu nachhaltigen Geschäftsmodellen publiziert hat. Aus der Zusammenarbeit ist das erste Buch zum wertebasierten Innovationsmanagement entstanden.
Michael Braun: Worin besteht für Sie der Zusammenhang zwischen Werteorientierung und nachhaltiger Wertschöpfung?
Henning Breuer: Wenn Unternehmen sich für Nachhaltigkeit entscheiden, ist das nicht nur ein zusätzlicher Punkt auf der Liste ihrer Ziele, sondern Sie müssen – immer wieder und auf verschiedenen Ebenen – abwägen zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten, zwischen den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen mit 169 untergeordneten Zielen, und den eigenen strategischen Unternehmenszielen. Das erfordert eine Neuordnung der Prioritäten und einerseits bezeichnen Werte genau diese Systeme von Prioritäten. Andererseits vermitteln Sie als Vorstellungen des Wünschenswerten ein Bild davon, wohin die Reise gehen soll und damit ein Leitbild für Innovationsvorhaben.
Michael Braun: Was würden Sie in dem Zusammenhang grundsätzlich unter Wertschöpfungspotenzialen verstehen – was spielt neben ökonomischen Gesichtspunkten heute eine Rolle?
Henning Breuer: Dass sich wirtschaftliches Handeln an übergeordneten Werten ausrichten sollte fordern inzwischen so unterschiedliche Instanzen wie der Nato Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Gründer und Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums Klaus Martin Schwab und der Business Roundtable in seinem 2019er „Statement on the Purpose of a Corporation“. Darin hat sich dieser Zusammenschluss führender US-Amerikanischer, internationaler Unternehmen erstmals dazu bekannt, dass Unternehmen nicht nur im Dienste ihrer Anteilseigner und deren Erzielung von Mehrwert handeln sollen, sondern allen Anspruchsgruppen verpflichtet sind, also auch Kunden, Mitarbeitenden, Zulieferern, Gemeinden und dem Schutz der Umwelt. Entsprechend mehrdimensional müssen wir nun Wertschöpfung denken – welche materiellen Werte werden für die verschiedenen Gruppen geschaffen, welche ideellen Werte werden realisiert? Neben ökonomischen Aspekten wie Renditen und Löhnen kommen soziale Aspekte wie Mitbestimmung, Sicherheit und Qualität der Arbeitsplätze und ökologische Aspekte ins Spiel, etwa die Reduktion von Emissionen oder positive Beiträge zur Stärkung der Ökosysteme.
Michael Braun: Welche Folgen hat das dann für unternehmerische Entscheidungen?
Henning Breuer: Das heißt zum einen, dass ein Unternehmen für sich die Werte definiert, für die es einsteht, und auf die sich Mitarbeitende ebenso wie Kunden und andere Anspruchsgruppen verlassen können. Um profilbildend und motivierend wirken zu können sollten die eigenen Mindeststandards deutlich ambitionierter als die rechtlichen Vorgaben sein. Entscheidend ist dann, diese Werte nicht nur für das soziale Miteinander im Unternehmen oder für die Kommunikation nach außen zu etablieren, sondern als Leitlinien und als Vorlage für die Entwicklung der eigenen Angebote, Geschäftsmodelle und Netzwerke zu nutzen. An der Umsetzung in entsprechende Innovationsvorhaben zeigt sich inwieweit Unternehmen aktiv mit ihren Werten oder – wie es in den letzten Jahren öfter heißt – ihrem Purpose arbeiten.
Michael Braun: Können Sie ein Beispiel nennen?
Henning Breuer: Mein Kollege Kiril Ivanov hat jüngst am Beispiel der grünen Suchmaschine Ecosia sehr genau herausgearbeitet, wie sich deren Geschäftsmodell auf Basis von 6 Grundwerten (wie Nachhaltigkeit und Integrität) entwickelt hat, und wie diese Werte zur Anbahnung strategischer Partnerschaften oder allgemein zur Entscheidungsfindung in Innovationsvorhaben dienen. Das Unternehmen verwendet den Großteil seiner Einnahmen in Baumpflanzprojekte und andere grüne Investitionen, und versucht damit deutlich mehr CO2 zu neutralisieren als es durch seine Suchdienste verbraucht. Mit diesem Versprechen und dem entsprechenden Geschäftsmodell konnte sich das Berliner Unternehmen als feste Größe am scheinbar gesättigten Markt für Suchmaschinen erfolgreich behaupten. Seinen Erfolg bemisst es nicht nur finanziell, sondern auch über die Anzahl und Lebensdauer der gepflanzten Bäume.
Michael Braun: Dennoch hat Ecosia einen sehr geringen Marktanteil von unter einem Prozent – ein Nischenthema?
Henning Breuer: In unserem Buch zum wertebasierten Innovationsmanagement haben wir uns auch viele größere Unternehmen angeschaut, etwa auch IBM, die ihre Werte zur Neuausrichtung von Innovationsvorhaben mit der Belegschaft neu definiert haben, oder Lego, die über ein besseres Verständnis der Wertvorstellungen ihrer kindlichen Kundschaft (deren Wertschätzung für das Meistern schwieriger Aufgaben) ihr Produktportfolio neu definieren konnten.
Michael Braun: Unternehmerische Innovation und gesellschaftliche Verantwortung als wichtige Merkmale zur Weiterentwicklung von Unternehmen, die in Einklang zu bringen sind – hat das Auswirkungen auf Prozesse, Geschäftsmodelle und Netzwerke?
Henning Breuer: Ja sicher. Ein klassisches Beispiel sind die Aravind Eye Hospitals in Indien. Um v.a. mit Operationen des grauen Stars Erblindung und damit einhergehend auch oft Armut in der Landbevölkerung zu verhindern, hat die Krankenhauskette neue Prozesse für die kosteneffiziente Durchführung von Augenoperationen eingeführt. Ein Social Freemium Geschäftsmodell finanziert unbezahlte Operationen durch Premium-Dienste für bezahlte Eingriffe gegen, so dass Bedürftige ohne finanzielle Hürden eine Operation erhalten können. Strategische Partnerschaften und internationale Kooperationen etwa mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dienen ebenfalls der Mission des Unternehmens, unnötiges Erblinden aus der Welt zu schaffen. Und nur vor dem Hintergrund dieser wertebasierten Mission lassen sich die Innovationen des Unternehmens in den Prozessen, im Geschäftsmodell und in den Netzwerken verstehen.
Michael Braun: Um Wertschöpfungspotenziale zu verstehen und zu heben – welche Rolle spielen die Wertvorstellungen des Kunden bei der Entwicklung von (innovativen) Geschäftsmodellen?
Henning Breuer: Ein gutes Verständnis der Wertvorstellung der Kunden ist unverzichtbar, wenn man keine bösen Überraschungen erleben, sondern Kunden auch mittel- und langfristig gewinnen möchte. In der Praxis gehen wir dabei oft ethnographisch vor und begleiten Kunden mit Fragen und Beobachtungen im Alltag, um zu verstehen, was Ihnen wichtig ist und welche ihrer Sorgen und Probleme einer Lösung durch Anbieter zugänglich sind. So haben wir zum Beispiel im Business-to-Business Umfeld die Abläufe in Autowerkstätten untersucht, und erkannt, dass nicht nur naheliegende Werte wie Effizienz im Zeitmanagement, sondern auch gegenseitig persönliche Wertschätzung sehr wichtig für die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitenden in der Werkstatt und externen technischen Dienstleistern ist. Daraus haben sich verschiedene Innovationsfelder ergeben, von organisationskulturellen Themen bis hin zu neuen Ertrags- und Geschäftsmodellen zur besseren Abstimmung zeitlicher Abläufe und Prioritäten.
Michael Braun: Wie findet man Wege, die identifizierten Potenziale in marktfähige digitale Services weiterzuentwickeln?
Henning Breuer: Im ersten Schritt geht es darum, mit den relevanten Anspruchsgruppen – etwa Kunden, aber auch Nicht-Kunden und intern Verantwortlichen – gemeinsame Werte zu klären und eine positive Vision zu erarbeiten. Ein klares Verständnis des Warum und Wozu ist gerade in einem von Unsicherheit geprägten Geschäft wie dem der Innovation unverzichtbar. Erst dann macht es Sinn sich dem Wie zu widmen, und etwa neue Geschäftsmodelle oder Dienstleistungsangebote zu entwickeln.
Wenn dieser Rahmen abgesteckt und Innovationsfelder umrissen sind, in denen neue Lösungen für relevante Herausforderungen wichtig sind und gebraucht werden, kommen etablierte Methoden zum Einsatz, etwa um Zukunftsszenarien zu erschließen, Ideen und Konzepte zu entwerfen und Annahmen mit Hilfe von Prototypen zu überprüfen. Mit spielerischen Formaten lassen sich auch Methoden aus verschiedenen Traditionen wie der Zukunftsforschung, des Design Thinking und des Service Designs oder der User Experience verbinden. Für die Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle sollte man dabei auch auf Gestaltungsmuster zurückgreifen, die sich bereits in der Praxis bewährt haben.
Michael Braun: Das klingt gut in der Theorie, in der Praxis stelle ich mir das nicht so einfach vor.
Henning Breuer: Das stimmt. Geschäftsmodellentwicklung braucht grundsätzlich Zeit und wiederrum ein tragfähiges Wertefundament, um Veränderungen auch angesichts von Schwierigkeiten in der Umsetzung zu realisieren. In einem Europäischen Projekt namens IMPACT untersuchen wir diese Schwierigkeiten bei der Umsetzung nachhaltigkeitsorientierter Geschäftsmodelle und entwerfen neue Methoden, diesen zu begegnen.
Michael Braun: Können Sie ein Beispiel nennen?
Henning Breuer: Zum Beispiel haben wir ein Dienstleistungsunternehmen begleitet, dass sich seit über 100 Jahren für den Wert der Sicherheit einsetzt, und nun Nachhaltigkeit als weiteren, zentralen Wert für Innovation etablieren möchte. Die entsprechende Strategie ist klar, bei der Umsetzung in die Alltagspraxis aber zeigen sich Schwierigkeiten, mit denen auch andere Unternehmen zu tun haben. Zunächst fehlt eine einheitliche Sprache zur Verständigung über Nachhaltigkeitsthemen und Top-Management und operatives Management haben teils sehr unterschiedliche Vorstellungen von den zu erreichenden Zielen und geeigneten Methoden. So kommt es, dass gute Initiativen der operativen Ebene wenig Rückhalt auf der Führungsebene finden, und deren Vorgaben wiederum zu wenig Beachtung finden.
Michael Braun: Das klingt nach schwer zu bewältigenden Schwierigkeiten bei dem Versuch, nachhaltiger zu wirtschaften und Innovation nachhaltigkeitsorientiert zu gestalten.
Henning Breuer: Beim Klimawandel spricht man ja stellenweise von Doomism, einer die Akteure lähmenden Wahrnehmung von Ausweglosigkeit, während positive Visionen fehlen. Unsere Forschungs- und Beratungstätigkeit versuchen wir dem Entgegenzusetzen. In der Forschung geschieht das, indem wir mit dem Thema Werte das, was uns als Menschen wichtig ist, zum Ausgangspunkt von Innovation und zum Anker für resilientes und nachhaltigkeitsorientiertes Handeln in den Unternehmen machen. Mit den nachhaltigen Geschäftsmodellmustern versuchen wir zudem Vorlagen anzubieten, mit denen Unternehmen nachhaltigere Wertschöpfung betreiben können. In der Beratungstätigkeit geht es dann oft darum, diese Vorlagen und entsprechende Methoden für die Erneuerung der Organisation und deren Innovationstätigkeit zu nutzen, oder diese so einfach zugänglich zu gestalten, dass die Verantwortlichen sie selber nutzen können. Entsprechend sind viele Methoden und Vorlagen wie das Business Innovation Kit zur Gestaltung wertebasierter Geschäftsmodelle oder die Arbeiten zur Gamifizierung von Innovationsmanagement frei nutzbar. Meine Hoffnung ist, dass damit vielerorts Innovation im Sinne dessen gestaltet wird, was den Verantwortlichen und den Betroffenen wichtig ist.